„Ich musste noch einmal zurück und herausfinden, was es mit meinem Herzen auf sich hatte, warum es dort so stark schlägt.“
So endet mein Laufbericht des Al Andalus Ultimate Trail. Und um genau dies herauszufinden, hatte ich mich Ende Juli für den Ibex Multi-Day Ultra angemeldet, einen 212km langen Etappenlauf (5 Etappen) mit ca. 8000 positiven Höhenmetern durch Andalusien über die Weihnachtstage. Obwohl der Ibex Multi-Day Ultra nur 67km von Loja, dem Start des AAUT, entfernt ist, war der Lauf ein völlig anderes (Lauf)erlebnis für mich, dies in mehrfacher Hinsicht. Die Erkenntnis, die mir der Lauf geschenkt hat, ist allerdings sehr ähnlich und hat mich schließlich zu einem wichtigen Schritt in meinem Leben bewegt.
Aber zuerst ein paar Informationen zum Ibex Multi-Day:
Beim Ibex Multi-Day handelt es sich, wie bereits erwähnt, um einen Etappenlauf im Dezember, wobei zwei verschiedene Distanzen zur Auswahl stehen: Ultra und Challenge. Die Distanz des Ultra beträgt 212km (8000HM), die des Challenge 136km (5305HM). Ausgangspunkt und Endpunkt aller Etappen ist Moclin, ein sehr hübsches Dorf in der Provinz Granada mit einer Burg auf einem hoch gelegenen Hügel, den es jeden Tag aufs Neue zu bezwingen galt. Es ist ein sehr idyllisches, ruhiges Dorf mit einer stilvollen Jugendherberge, dem Hostel Rural – Casa rural Moclin, in welcher die Läufer untergebracht waren. Ich allerdings übernachtete mit meinem Partner Mike in dem nahe gelegenen New Leaf Cortijo.
Bei diesem Etappenlauf war man also jeden Tag am gleichen Ort und abends wurden vegetarische Mahlzeiten serviert. Für die restliche Verpflegung war man selbst verantwortlich, außer an den Checkpoints natürlich. Wir übernachteten im Cortijo, da es keine Möglichkeit gab, ein Zimmer mit Mike zusammen zu belegen. Wir mieteten ein Auto, mit welchem ich/wir dann immer hin und her fuhren. Und so hatte Mike auch ein Auto, um sich die Gegend anzuschauen und etwas herum zu fahren.
Aufgrund neuer Corona-Regelungen und der aktuellen Lage hatten sich mehrere Läufer vor dem Rennen noch abgemeldet, so dass 12 Läufer für die Ultra-Distanz und 11 für die Challenge am Start waren. Auch war es die erste Edition überhaupt, das heißt der Lauf fand zum ersten Mal im Dezember 2021 statt. Sarah und Steve, die beiden Organisatoren des Rennens, waren aber dennoch sehr bemüht, den Lauf unter all den Bedingungen (Pandemie, Wetter,…) stattfinden zu lassen, was sicherlich eine sehr große Herausforderung für sie darstellte.
Das Training für den Ibex Multi-Day Ultra fiel mitten in die nassen und kalten Monate Oktober, November und Dezember. Umso mehr freute ich mich auf Andalusien mit um die 20 Grad und Sonne. Dies sollte allerdings 2021 nicht der Fall sein. Aber dazu gleich. Eigentlich war ich zu der Zeit des Trainings nicht so super fit. Nach dem AAUT hatte ich keine wirkliche Erholung, denn so lief ich Anfang August einen selbst organisierten 24-Stunden Lauf um den Echternacher See, um Spenden für die Flutopfer zu sammeln. Und im September startete ich dann beim Ultra Trail Mullerthal auf der 112km Distanz. So richtiges Training, wie ich es normalerweise seit 2013 praktiziere, hatte ich in den Monaten Juli und August nicht. Das war sehr untypisch für mich. Die beiden Läufe im August und September waren durch Unwetter geprägt und einfach nur nass! Regen ohne Ende. Und so ging das Training dann auch weiter. Es fiel mir immer schwerer, mich zum Laufen zu motivieren. Insbesondere die langen Läufe verlangten mir viel ab, da ich stundenlang nur im kalten Regen völlig durchnässt lief. Mental war dieses Training besonders herausfordernd, denn so pushte ich mich immer wieder, um mich bei diesen Wetterbedingungen vor die Tür zu bewegen und zu laufen.
Aber was macht man nicht alles, um sich auf einen Lauf, der einem am Herzen liegt, vorzubereiten… Ich musste einfach zurück nach Andalusien und herausfinden, warum diese Gegend mich so in ihren Bann zog und derart starke Emotionen auslöste. Und ich wollte Mike dabei haben, ihm diese Gegend zeigen, in der mein Herz so heftig schlägt.
Man kann sich natürlich fragen, warum dies nur bei einem Etappenlauf möglich war. Warum nicht einfach Urlaub machen in Andalusien, und beim Wandern und bei Spaziergängen darüber reflektieren? Aber das ist wohl so eine Sache, die typisch für Läufer ist und auch nur Läufer nachvollziehen können. Hiermit ist die essenzielle und grundsätzliche Frage im Hinblick auf das Ultralaufen allgemein verbunden, warum man diese Art von Läufen ausübt und was sie einem geben im Vergleich zum Wandern oder Gehen. Warum muss es gerade ein besonders langer oder/und steiler Lauf unter harten (Wetter)bedingungen sein? Diese Frage habe ich ja bereits in meinem AAUT-Laufbericht (sowie in einigen Podcasts) thematisiert. Und natürlich wollte ich einfach mal wieder ein Etappenrennen laufen :-).
Dann stand auch schon Weihnachten vor der Tür, und alle sprachen von den Vorbereitungen für die Weihnachtsfeste: Essen, Geschenke, Getränke und was sonst noch alles für die Weihnachtstage nötig ist. Auch ich war mitten in den Vorbereitungen für die Weihnachtstage: Laufschuhe, Laufrucksack, Trinkflaschen, isotonische Getränke und Nahrung für die Läufe. Dann war alles soweit. Mein ganzes Equipment war gepackt und wir legten uns schlafen, denn unser Flug ging am 21.12. morgens schon um 6:00. Um 2:00 in der Nacht wachte ich mit Halsschmerzen auf und ich fühlte mich nicht wohl. An Schlaf war nicht mehr zu denken. Mein Corona PCR-Test am Morgen war negativ sowie alle weiteren Tests. Aber die Halsschmerzen wurden mit jeder Stunde stärker. Die erste Etappe war am 23.12., und so hatte ich noch genau 2 Tage um fit zu werden. Ich trank sehr viel Tee, inhalierte und ich fühlte mich auch nicht mehr krank am folgenden Tag. So beschloss ich zu starten, meinen Puls ganz genau im Auge zu behalten und es langsam anzugehen. Und ich holte „optimistisch“ (mulmig, voller Zweifel,…) meine Startnummer ab.
Etappe 1
Am 23.12. um 9:15 war es dann soweit. Der Himmel war sogar etwas klarer. Seit unserer Ankunft regnete es und die Aussichten waren sehr nass. Die erste Etappe war 35km lang mit 1706 positiven Höhenmetern. Es war eine wunderschöne Strecke, welche durch eine gebirgige Landschaft und über eine Hängebrücke führte. Ich sah sogar eine Ibex-Familie. Mein Puls war tatsächlich sehr niedrig und ich ließ mir auch Zeit, denn ich wollte mich aufgrund meiner Erkältung nicht überfordern. Und zudem waren die Cutoff-Zeiten sehr großzügig. Einige Anstiege waren der Hammer! Sehr hart, aber die Aussicht auf die Sierras grandios! Ich war wieder in meinem geliebten Andalusien. Auch wenn mir ehrlich gesagt die Hitze fehlte. Es war nicht dasselbe, aber auch das ist Andalusien. Dies wurde mir im Laufe dieser Woche immer wieder bewusst. Andalusien ist mehr als nur permanenter Sonnenschein. Ich habe hier auch andere Seiten kennen gelernt: Regen, Kälte, abgelegene Orte an Autobahnen entlang, Schlamm ohne Ende. Aber ist es nicht mit allen Dingen und Orten so? Wo gibt es dauerhafte Perfektion zu 100%? Das Ultralaufen an sich ist ja selbst auch gezeichnet durch Höhen und Tiefen, sowohl das Training wie auch das Rennen selbst. Ebenso unser Alltag, der Job, die Partnerschaft und Familie. Und genauso erschien mir auch Andalusien. Neben der unheimlichen Schönheit gab es auch dort Kälte, Regen und weitere Unannehmlichkeiten. Die aber alle auch Teil von meinem so genannten Schatz sind. Dieser Lauf zeigte mir ein authentisches Andalusien, welches ich aber deswegen nicht weniger liebte.
Allerdings brauchte ich eine gewisse Zeit, um den Ibex Multi-Day nicht als eine Art Wiederholung der Erlebnisse im Juli zu betrachten. Es wäre unfair und würde den Lauf nicht würdigen. Auch dies wurde mir im Laufe dieser Woche bewusst. Man kann einmalige Erlebnisse nicht einfach ein zweites Mal auf die gleiche Weise erleben. Einmalige Erlebnisse sind eben nicht zu wiederholen. Jedes Mal ist auf seine Weise einzigartig. Anders. Und mit diesem Anders musste ich mich noch auseinander setzen. Die Vergangenheit ist vorbei, ich muss auch Dinge hinter mir lassen. Loslassen. Nicht nur was den Lauf betrifft, sondern auch im Alltag. Mein Jobwechsel im September machte mir immer noch ziemlich zu schaffen, es gelang mir nicht richtig, mich an meinem neuen Arbeitsplatz einzuleben. Ich haftete zu sehr an der Vergangenheit. Und so war es auch mit diesem Lauf und der Erinnerung an den Lauf im Juli. Der Ibex Multi-Day war ebenfalls einzigartig und etwas Besonderes, und es lag in meiner Hand, ihn auch so zu nutzen und zu genießen. Und im Endeffekt ist er mir auch so in Erinnerung geblieben.
Etappe 2
Die zweite Etappe am 24.12. steht unter dem Motto „Mudskiing“. Es hatte in der Nacht sehr stark geregnet und es hieß sogar, dass es seit vielen Jahren nicht mehr so viel geregnet hatte. Der Untergrund bestand überwiegend aus Schlamm, der an den Schuhen festklebte. So lief man auf ca. 8cm Schlamm. Besser gesagt, man watete und rutschte mit 8cm Schlamm an den Schuhen durch den Schlamm. Mit Schlamm durch den Schlamm, oder so ähnlich. Und das 49km lang, offiziell, denn für mich waren es 54km mit 1800 HM. Eine weitere Besonderheit dieser Etappe war der Fluss, durch den man hindurch musste. Eine sehr willkommene Abkühlung könnte man ja sagen, aber wenn es regnet und die Temperaturen unter 20 Grad liegen, dann sieht es etwas anders aus. Obwohl, man ist ja dann eh nass, ob man durch den Fluss schwimmt oder nicht. Das Wasser reichte immerhin bis kurz über die Knie.
Ich genoss die Strecke, bis ich plötzlich während eines Anstiegs von meiner GPS-Uhr die Meldung erhielt, dass ich von der Route abgewichen sei. Auch sah ich schon eine Weile keine Markierung mehr. Ich kehrte um, aber es war seit der letzten Markierung nichts mehr zu sehen. Meine Uhr zeigte den Weg nach unten, aber die letzte Markierung in Richtung Hügel hoch. Also noch einmal den Hügel hoch. Nach fast 2 Kilometern immer noch keine Markierung. Ich drehte wieder um und lief den Hügel runter. Ich musste an meine "Hill repeat" Trainingseinheiten denken. Dafür waren die also gut :-). 20 Minuten lang suchte ich nach dem Weg. So beschloss ich die Organisation anzurufen. Inzwischen kamen noch zwei weitere Läufer hinzu. Die Orga teilte uns mit, dass vermutlich Markierungen abhanden kamen und wir sollten der Uhr nachlaufen. Und so verliefen wir uns mitten in den Olivenplantagen und irrten umher. Besser gesagt, wir betrieben „mudskiing“ . Wir sind irgendwann dann wieder auf einem befestigten Weg gelandet und haben den Checkpoint erreicht. Und dann ging es ziemlich unsanft weiter. Es regnete in Strömen. Ich war so durchnässt, voll Schlamm und kalt. Ich beschloss, einfach zu singen und zu tanzen, um mich bei guter Laune zu halten. Als ich dann am Checkpoint ankam, sagte mir ein Volunteer „I saw you dancing in the rain“. Ab dem Zeitpunkt war ich „the girl who is always smiling and dancing“. Dann folgte noch der Hammeraufstieg nach Moclin. Als ich die Finishline sah, war ich so erleichtert und wollte durchlaufen. Doch irgend etwas stimmte nicht. Ich stand zwar direkt vor dem Zieleinlauf, aber auf der falschen Seite. Es galt noch eine weitere Schlaufe und einen weiteren Anstieg zu laufen, da man von der anderen Seite durchlaufen musste. Also bin ich wieder zurück. Den Hügel hoch und noch ca. 1.5km laufen bis zur Finishline. In dem Moment schaltete ich einfach alles aus und lief. Nach über 52km vor der Finishline zu stehen und umzukehren, um noch weiter zu laufen war schon herausfordernd. Aber ich lief weiter und mit einem breiten Lächeln schließlich ins Ziel. An dem Tag habe ich auch einen Preis gewonnen, da ich 3. Dame geworden bin: Eine Tafel Schokolade mit Erdnüssen. Aufgrund meiner Lebensmittelallergien auf Samen und Nüsse hat Mike meinen Preis bekommen .
Abends aßen wir immer im Hostel mit den anderen Läufern. Immerhin war ja auch Heiligabend. Schon etwas außergewöhnlich, denn so stand natürlich das Laufen im Vordergrund. Anstelle von Wein und Champagner gab es isotonische Getränke, viel Wasser und Tee. Im Cortijo hatten wir einen Kamin, und so verbrachten Mike und ich den Rest des Abends vor dem Feuer. Er war mittlerweile auch richtig erkältet, und ich… mitten in einem Etappenlauf, kurz vor der 3. Etappe. Unser Cortijo wurde erst ab 17 Uhr geheizt, so dass wir total glücklich über unseren Kamin waren. Auch Heizdecken hatten wir in unseren Betten. Eine Wohltat für meine Muskeln nach den langen nassen Stunden!
Etappe 3
Und nun stand auch schon die 3. Etappe bevor, immerhin die kürzeste mit 29 Kilometern und 928HM. Die Strecke führte überwiegend über Wege durch Olivenplantagen und teilweise parallel zur Schnellstraße. Und insbesondere durch sehr sehr viel Schlamm, was ein Vorankommen natürlich erschwerte. Und das Wetter? Es regnete zur Abwechslung. Und es begann später auch zu stürmen. Als ich mit einem anderen Läufer die Burg in Moclin hochlief, war soviel Wind und Nebel, dass ich ihn nicht mehr sehen konnte, obwohl er sich nur kurz vor mir befand. Aber wir konnten uns hören. Wir redeten von Pizza, von ganz viel Pizza. Wir wünschten uns eine Wunderlampe, damit wir auf der Stelle eine Pizza bekommen würden. Und so verstrichen die letzten Höhenmeter vor der Finishline mit viel Pizza im Kopf.
Als ich diese dritte Etappe finishte, war ich eigentlich in einem ziemlichen Tief. Diese permanente Nässe hinterließ ihre Spuren. Meine Haut fing an sehr stark zu jucken und mein Rücken war ziemlich wund gerieben. Und ich war einfach müde von der Nässe bis auf die Knochen. Als wir im Cortijo waren, diskutierte ich mit Mike über den Fortgang des Rennens. Denn mittlerweile war das Wetter richtig unangenehm und es wurden starke Unwetter gemeldet. Und dies für die längste Etappe über 60km und 2000HM durch die Sierra Parapanda. Ich war hin und her gerissen. Am Abend gingen wir dann wieder ins Hostel zum gemeinsamen Abendessen und ich teilte anderen Läufern mit, dass ich mit sehr großer Wahrscheinlichkeit nicht mehr starten werde am nächsten Tag. Dann kam allerdings die Meldung, dass die Strecke aus Sicherheitsgründen auf 40km gekürzt werden musste. Die Sierra Parapanda war unter diesen Wetterbedingungen nicht laufbar. Trotzdem war ich mir nicht sicher, ob ich unter eben diesen Wetterbedingungen überhaupt noch 40km laufen möchte. Ich tendierte in dem Moment eher zu einem Abbruch des Laufes. Und dies, obwohl ich einen weiteren Preis bekommen hatte auf dieser Etappe. Diesmal eine Packung mit Kernen, eine regionale Knabberei, welche ich Mike aufgrund meiner Allergie wieder geben musste .
Ich packte schließlich trotzdem meine Laufsachen zusammen, sollte ich es mir doch noch anders überlegen. Abends schickte mir dann Mikes Bruder noch eine Nachricht. Darin ermutigte er mich weiter zu laufen, da ich es schon so weit geschafft hätte und die mentale Stärke dazu hätte. Eigentlich hatte er ja Recht. Ich beschloss nicht mehr nachzudenken, sondern zu schlafen. Und am nächsten Morgen würde ich aufstehen und schauen, wie stark das Unwetter tobte. Und dann wurde es morgen. Ich stand auf und ging zum Fenster. Es regnete und stürmte noch. Ich ging ins Badezimmer und zog meine Laufsachen an, aß und trank etwas, ging zur Tür hinaus und fuhr zur Startlinie.
Etappe 4
Als ich am ersten Checkpoint vorbei war, ging mir ein Satz durch den Kopf, den Mike am Vortag äußerte. Aufgrund der Wetterbedingungen und meiner Haut am Rücken sagte er, dass er es nicht verstehen würde, warum jemand das tut. Das würde ja keinen Spaß mehr machen. Aber, mit Spaß hatte das auch nichts zu tun, ich laufe nicht nur aus und zum Spaß. Es geht viel weiter als das. Es ist tiefgründiger und hat einen existenziellen Charakter. Ich gab mich total meinen philosophischen Gedanken hin und verfiel plötzlich in einen Zustand tiefer Ruhe und Frieden. Es ging in dem Moment nur um das „Sein“, um das Sein im Moment. Ich bewegte mich einfach nach vorne.
Dann führte die Strecke an einer kleinen Tankstelle entlang und es ging weiter bergauf. Ich kam in eine kleine Ortschaft, die mich sehr ansprach, denn rechts von mir befand sich eine grandiose Aussicht. Ich habe später auf Maps nachgeschaut, wo sich dieser Ort befand und wie der Name lautet. Ich fand aber nur den Namen der Straße: Calle las Trompetas. Ich hörte auch Musik zu dem Zeitpunkt und meine App spielte gerade ein Lied, das ich zuvor nicht kannte. Es passte irgendwie total zu dem Gesamtbild und so hörte ich dieses Lied auf Repeat (insgesamt 4 Stunden lang). Es handelte sich um das Lied „What’s on your mind?“ von Madrugada. Dann gelang ich zum nächsten Checkpoint, und als ich weiterlief, starteten ebenfalls ein Mann und sein Sohn mit auf die Strecke, um die Markierungen abzunehmen. Es irritierte mich zu Beginn, da permanent jemand hinter mir war und ich offensichtlich die Letzte war. Es vermittelte mir irgendwie den Eindruck eines „Besenwagens“. Aber die beiden waren sehr nett und zuvorkommend. Mir gelang es auch nach einer Weile, diesen Gedanken auszuschalten und mich nur auf die Strecke zu konzentrieren. Denn die war gerade ziemlich steil. Die Strecke führte durch Olivenplantagen mit einfach traumhafter Aussicht. In meinen Ohren ertönte immer noch „What’s on your mind? When you’re lost in time.” Ich versuchte die Frage zu beantworten. Und in meinem Geist war eigentlich nichts mehr. Ich bewegte mich. Durch die Zeit. Durch die unglaublich schöne Landschaft. In mir herrschte Stille. Ich versuchte mir über gewisse Dinge Gedanken zu machen, aber es gelang mir gar nicht mehr. Zu unbedeutend und in dem Moment einfach nur überflüssig. Am nächsten Checkpoint verabschiedeten sich die beiden Herren und es liefen dann eine Frau mit zwei jungen Mädchen mit. Auch sie waren sehr freundlich und machten sogar Fotos von mir mit der tollen Aussicht. Und dann war es schon fast zu Ende, ich befand mich am letzten Checkpoint und es lag nur noch ein letzter, aber sehr steiler Anstieg von ca. 6km vor mir bis zur Finishline. Ich genoss diese Kilometer richtig. Ich blickte immer wieder zurück, um die wunderschöne Sierra zu betrachten. Und dann lief ich ein viertes Mal über die Finishline. Total entspannt und einfach glücklich.
Etappe 5
Und jetzt nur noch eine letzte 40km Distanz mit 1500 HM zu bewältigen! Für mich war nun klar, dass ich den Ibex Multi-Day finishen werde. Natürlich weiß man nie, aber solche Gedanken waren gar nicht in meinem Kopf. Leider waren nur noch sehr wenige Läufer im Rennen. Auch die 5. Etappe war teilweise durch steile Anstiege geprägt, wobei diese sich absolut lohnten. Kleine idyllische Dörfer, Gebirge, Olivenplantagen, Naturparks… es war von allem dabei. Und das Wetter wurde allmählich besser. Ich verlief mich einige Male und irrte wieder einmal in den Olivenplantagen umher, um die Markierungen zu finden. Und am Ende hatte ich natürlich einige Kilometer mehr auf der Uhr. Da sich die Strecken immer wieder kreuzten und überschnitten, schließe ich nicht aus, dass ich eine extra Runde aus einer vorigen Etappe gedreht habe. Einigen Läufern erging es so wie mir. Aber trotzdem kamen wir an allen Checkpoints vorbei, eben nur mit einigen Kilometern mehr. Das ist so typisch für mich :-). Und dann war es soweit, ich steuerte in Richtung Finishline. Und finishte die Ultra-Distanz als 2. Dame (von 2) und als 8. Läuferin insgesamt (von 8).
Abends gab es noch ein Abschlussessen und die Siegerehrung. Einfach unglaublich! Eine total langsame Schildkröte auf Platz 2. Sicherlich lag es nicht an meinem Schneckentempo, aber ich hatte durchgehalten. Auch wenn ich im Vergleich zu den 7 anderen Läufern länger brauchte für die Strecken, es gelang mir, meine Zweifel, Ängste und überhaupt meine ganzen Gedanken zu überwinden. Und stattdessen nur im Moment zu sein. Da zu sein in dieser Gegend, die mich erfüllt und einen Zustand der Stille und Ruhe in mir auslöst. Und dabei einfach das zu tun, was ich liebe: Ultras laufen. Ich bin sehr froh, dass ich an diesem Lauf teilnehmen konnte, auch wenn die Bedingungen nicht immer leicht waren. Aber das waren sie wohl für niemanden. Nicht für die Organisatoren Sarah und Steve, die all diese Hürden gleich bei ihrer ersten Edition überwinden mussten, nicht für die Volunteers, die ebenfalls stundenlang im Regen geduldig auf uns Läufer warteten, um uns mit einem Lächeln zu empfangen, uns zu motivieren und zu verpflegen. Einen unheimlich herzlichen Dank dafür! Leider gibt es 2022 keine 2. Edition des Ibex Multi-Day mehr, aber dafür bieten Sarah und Steve (Ultra Trail Spain – Running Holidays) Laufreisen in Moclin an, so auch wieder zu Weihnachten.
Als wir am nächsten Tag Moclin verließen und zum Auto gingen, blickte ich noch einmal auf die Sierra vor mir. Und es war mir so klar in dem Moment: Ich brauche in meinem Leben nicht viel mehr um glücklich zu sein. Ich will soviel Zeit wie möglich hier verbringen. Ich habe meinen Platz gefunden. Einen Platz, der mich inspiriert, erfüllt, begeistert, erstaunen lässt, mir Ruhe und Frieden schenkt, mir das Gefühl gibt, angekommen zu sein.
Ein paar Tage nach unserer Heimkehr habe ich dann zwei Entscheidungen getroffen: Erstens, ich werde nach fast 9 Jahren eine erste richtige Laufpause einlegen, denn ich bin richtig müde. Zweitens, ich werde mir ein Haus in Andalusien kaufen. Beides habe ich erfolgreich umgesetzt .