Auf in ein neues Jahr – Achterbahnfahrt mit Looping
Bereits Ende des Jahres 2023 stand fest: 2024 sollte ein „Looping-Jahr“ werden, ganz nach dem Motto „Just one more loop“. In anderen Worten: Ich meldete mich für meinen ersten Backyard Ultra an, den Schinder-Trail Backyard Ultra. Dieser wird jährlich von Alex Holl organisiert und sollte wieder am 4. Oktober 2024 in Rettert stattfinden.
Ein Backyard Ultra hat ein offenes Ende, das Prinzip lautet „The last human standing“. Dabei wird immer zur vollen Stunde eine Runde von 6,706km gelaufen und das Ziel besteht darin, so lange zu laufen, bis niemand mehr im Rennen ist. Man muss vor der nächsten Runde zur vollen Stunde über die Ziellinie gelaufen sein, damit die Runde als gefinisht gilt und man wieder in die neue Runde starten kann. So gibt es bei einem Backyard auch nur einen einzigen Finisher, alle anderen gelten als DNF – „did not finish“.
Klingt doch einfach, oder? 6,706km in einer Stunde ist doch locker zu schaffen! Bei einem Backyard ist die Distanz so gewählt, dass man 100 Meilen in einer Zeit von 24 Stunden zurücklegt. Doch nicht so easy? Das werden wir bald herausfinden…
Ich schloss das Jahr 2023 mit 3.500 Laufkilometern ab und startete voll motiviert, aber bereits mit schweren Beinen, in ein neues Laufjahr. Geplant waren, neben dem Schinder-Trail Backyard Ultra, der Pfälzer Berglandtrail, ein Etappenlauf, den ich zum vierten Mal in Angriff nehmen wollte, ein 100 Meilen Lauf in den Vogesen sowie die 112km-Distanz des Ultra Trail Mullerthal (meine 7. Edition).
Schnell wurde Anfang Januar aus der Motivation Frustration. Mein rechtes Bein schmerzte immer mehr, so dass ich erst einmal eine Zwangspause einlegen musste. Es wurde Februar, März… doch keine Besserung. Nach langen Wochen der Ungewissheit, Verzweiflung und Alternativtraining bekam ich dann Ende März/Anfang April die Diagnose: Pes anserinus. Ich hatte eine chronische Sehnenentzündung an der Innenseite des rechten Beines/Knies. Nach einer Cortison-Behandlung ging es dann endlich Anfang Mai wieder bergauf (im wahrsten Sinne des Wortes). Meine bisherigen Läufe musste ich leider alle absagen, aber ich war überglücklich, dass ich wieder normal trainieren konnte und sah der Teilnahme am Backyard Ultra optimistisch entgegen.
#krebsisteinarschloch
Als ich mich auf der Facebook Seite des Race directors Alex Holl über den Lauf informieren wollte, erfuhr ich von der tragischen Krebserkrankung seiner Frau Roxy. Auch wenn ich diese beiden Menschen nicht persönlich kannte (und leider bis jetzt auch nicht kennenlernen konnte), berührte mich ihr Schicksal. Mir kamen ebenfalls wieder eigene Erinnerungen hoch, denn im Jahr 2017 erhielt ich die Diagnose Boderline-Tumor der Eierstöcke. Mein damaliger Gynäkologe war nicht gerade einfühlsam und sehr rabiat. Zum Glück hörte ich auf mein Bauchgefühl und holte mir ein zweites Gutachten. Die Diagnose wurde zum Glück nicht in der Art bestätigt, aber trotzdem war es grenzwertig und ich musste alle paar Wochen zum Ultraschall und Tumormarker-Test. Die Zysten bekam ich erst nach ca. zwei Jahren in den Griff, verbunden mit einem operativen Eingriff und einer hormonellen Behandlung. Bis heute ist glücklicherweise alles in Ordnung. Ich wünsche Roxy alles Glück der Welt, dass sie den Krebs besiegt.
Aufgrund dieser Umstände wurde die Backyard-Glocke an Katja von Katjas Laufzeit überreicht, die zusammen mit Andreas die Organisation des Schinder-Trail Backyard Ultra 2024 übernahm. Schon einmal vorweg, die beiden haben das absolut super gemeistert. Respekt!
Von der Spitze der Sierra Nevada nach Rettert
Ich nahm mein Training im Mai wieder auf, absolvierte viel Intervall- und Tempotraining, lief viele Trails, fuhr Fahrrad und meldete mich spontan für mein erstes Vertikal-Rennen in Andalusien im August an. Der Subida al Pico Veleta ist ein internationaler 50km Ultralauf (2700 Höhenmeter), bei dem die Spitze der Sierra Nevada, der Pico Veleta auf 3396 Meter Höhe, laufend bestiegen wird. Neben der Höhe stellen die warmen Temperaturen eine weitere Herausforderung dar. Aber wer mich ein bisschen kennt, der weiß, dass ich mich erst bei Temperaturen ab 30 Grad richtig wohl fühle und ich eine leidenschaftliche Hitzeläuferin bin. Die 38 Grad am Tag des Rennens haben mich also keineswegs gestört. Mir war aber schon klar, dass im Oktober nachts in Rettert sicher andere Temperaturen herrschen werden.
Nachdem ich im August mein ganzes Training in Andalusien absolvierte, ging es zurück nach Luxemburg, wo ich mein spezifisches Backyard Ultra Training startete. Aber wie bereitet man sich überhaupt auf ein solches Rennen vor? Ich komme noch einmal auf meine vorige Aussage zurück… ist doch easy, oder? Da ich im Oktober 2023 den Camino de Santiago de Compostela in Luxemburg über die Länge von 180 km nonstop in 31 Stunden gelaufen bin, ging ich davon aus, dass ich diese Distanz ohne längere (Schlaf)pausen mit genügend Training auch in einem Backyard Ultra schaffen könnte.
Ich behaupte jetzt einmal, dass ich mit einer sehr selbstbewussten Naivität (oder mit sehr naivem Selbstbewusstsein) an die Sache ranging. Auf der anderen Seite schenkte mir diese Einstellung genau die richtige Motivation, Freude und Willenskraft.
Heute schon geloopt?
Ich stellte mich mental völlig auf „Loops“ ein. Ich loopte mich durch die folgenden Wochen. Mein erstes spezifisches BYU-Training bestand in 10 Loops (67km) auf einer Trail Strecke mit 120 Höhenmetern. Das kam den Bedingungen des Schinder-Trails sehr nahe. Auch dort hat eine Runde um die 100 Höhenmeter und die Strecke verläuft überwiegend durch den Wald auf Schotter- und Forstwegen. Ich packte einen Stuhl, Ersatzklamotten und jede Menge Getränke (es wurden über 30 Grad an dem Tag gemeldet) in mein Auto und startete meine erste Runde noch im Dunkeln. Ich stellte fest, dass es GAR NICHT so einfach ist wie es klingt. Ab Runde 8 begann ich, der Zeit hinterher zu rennen. Nach den Backyard Regeln hätte ich 9 Runden geschafft. Also eher 24 Runden? Oder doch eher 20…15…?
Mir machte das Training unheimlich Spaß und mental war ich richtig fokussiert. Mir gefiel das Konzept, in „Loops“ zu denken, da es mir erlaubte, nur im Moment zu sein und immer nur bloß eine Stunde lang zu laufen. Ich setze mich bei Rennen über +100km immer sehr stark unter Druck, da es gilt, möglichst schnell von A nach B zu laufen. Das fällt mir mental viel schwieriger als das „Rundenlaufen“ über eine sehr lange, wenn auch unbestimmte Zeit. Und dann beging ich wohl den fatalen Fehler. Ich startete beim Ultra Trail Mullerthal, da ich noch einen 100km-Lauf (3200HM) in der Nacht als Trainingslauf machen wollte. Es fühlte sich von Anfang an nicht richtig an und passte einfach nicht. Ich war nicht mit dem Herzen dabei und mein Kopf sowie mein gesamter Körper streikten. Ich quälte mich regelrecht 10 Stunden durch die Nacht und beendete das Rennen bei Kilometer 65. Mein zweites DNF in meinen 12 Laufjahren. Aber ich fühlte mich richtig befreit. Ich traf diese Entscheidung, da das Rennen mir erstens überhaupt keinen Spaß machte und ich völlig auf den Backyard konzentriert war. Ich wollte meine Batterien und meine Reserven nicht ganz aufbrauchen, denn es stand noch eine weitere Trainingswoche an und dann war der Backyard. Und zudem habe ich schon 6 UTML-Medaillen (der Lauf findet quasi neben meiner Haustür statt…), eine Backyard Ultra-Medaille besaß ich hingegen noch nicht.
Ich absolvierte auch meine letzte Trainingswoche mit 130 Kilometern im „Backyard Rhythmus“. Doch bereits nach dem UTML schlich sich mein alter Bekannter Pes anserinus wieder heran. Ich versuchte es zu ignorieren, aber ich musste den Tatsachen ins Auge sehen. Knapp 2 Wochen vor dem großen Tag des Schinder-Trails begann mein Bein wieder richtig zu schmerzen. Ich beschloss, die letzten Wochen vor dem Lauf einfach zu ruhen, stretchte viel und schmierte mir alles, was es so an Salben und Hausmitteln gibt auf das Bein. Wahrscheinlich brauchte mein Körper jetzt Ruhe und er teilte mir das auf diese Art mit. Ich wollte aber gar nicht drüber nachdenken und für mich kam eine Absage nicht in Frage. Mental war ich sowas von gut vorbereitet und stark. Und dann kam die nächste schlechte Nachricht.
Mit der Deutschen Bahn im Rückschritt nach Rettert
Geplant war, dass ich am Freitag zusammen mit einem Lauffreund mit dem Camper nach Rettert fahre. Mein Partner Mike sollte am späten Nachmittag dann nach Rettert kommen. Ich hatte ein Hotelzimmer für zwei Nächte gebucht. Doch dann kam alles anders. Mein Laufkumpel hat abgesagt, Mike wurde krank. Und dazu mein Bein! Ich war erst einmal so gefrustet, dass ich ins Bett kroch, die Decke über den Kopf zog und die ganze Welt verfluchte. Doch ich versuchte, meinen Fokus nicht zu verlieren und suchte nach einer Lösung. Ich beschloss, einen Tag früher mit der Bahn nach Rettert zu fahren. Die Fahrt sollte laut Fahrplan 4h19 dauern. Aber wie kommt mein ganzes Zeug nach Rettert? Mike konnte erst abends kommen und ich musste mein „Lager“ einrichten. Wozu hat man denn einen großen rosa Koffer? Ich packte mein gesamtes Zeug zusammen, mein Koffer war so voll und schwer, dass ich ihn kaum hochheben konnte. Ich hätte womöglich einige Wochen lang in der Wildnis überleben können, sogar eine Luftmatratze war dabei. Nur mein Backyard-Stuhl fehlte noch.
Morgens arbeiten, um 12 Uhr los zur Bahn. Autobahn gesperrt. Aber ich schaffte es noch rechtzeitig zum Bahnhof. Nach 40 Minuten blieb die Bahn irgendwo im Nirgendwo stehen. Nach ungefähr 30 Minuten Stillstand kam dann die Durchsage: Der Zug ist defekt! Weiterfahren nicht möglich. Wir mussten auf die Genehmigung warten, um rückwärts zurück zum letzten Bahnhof zu fahren. Nach einer knappen Stunde waren wir dann wieder am Ursprungsbahnhof, wo eine Regionalbahn nach Koblenz wartete. Über zwei Stunden dauerte die Fahrt, alle Anschlusszüge hatte ich natürlich verpasst. In Koblenz angelangt, musste ich mit einem weiteren Zug und mit einem Bus weiter nach Rettert. Treppen hoch, Treppen runter mit meinem tonnenschweren Koffer. Nach 7 Stunden war ich dann endlich in Rettert. Es war bereits dunkel und menschenleer - the last woman standing in Rettert?
After Eight (NEU!) – Der Krautrock-Beat
Der 4. Oktober: Tag X! Ich war überhaupt nicht nervös. Normalerweise habe ich schon Tage vor einem Rennen starkes Lampenfieber. Aber wie bereits gesagt, beim Backyard-Format verspürte ich diesen Druck nicht. Und Selbstzweifel? Keine. Und mein Bein? Lieber noch etwas Salbe. Ich versuchte, nicht über mein Bein nachzudenken. Natürlich waren die Schmerzen nicht weggezaubert, aber es war auch nicht schlimmer. Ich hatte keine Erwartungen. Egal wie der Lauf enden wird, es wird richtig und gut sein. Ich freute mich einfach drauf.
Gegen Mittag holte ich meine Startnummer ab, es war die Nummer 12. Ich begann bereits, mein kleines Lager einzurichten und wollte dann noch etwas schlafen, was mir aber nicht mehr gelang. Dann kam Mike mit meinem Stuhl, das Lager war komplett.
Um 20 Uhr schickte uns Katja dann los… Glocke – Loop 1. Es war bereits dunkel und zu Beginn befanden sich viele Leute auf der Strecke. Ich lief in meinem gewohnten Rhythmus und konzentrierte mich völlig auf das Hier und Jetzt. Und so verging die Nacht:
3X Trillerpfeife… 2X Trillerpfeife… 1X Trillerpfeife… „Noch eine Minute!“… Glocke… LOS. Und wieder von vorne. Im Laufe der Nacht wurde es immer kälter, es waren gerade mal 3-4 Grad. Dafür war der Himmel unheimlich klar und die Sternbilder waren deutlich zu erkennen. Ich versuchte, mein Tempo zu halten, so dass ich immer ca. 8 Minuten Pause hatte. Dabei half mir meine Playliste mit Krautrock, der so genannte „Klaus Dinger-Beat“. Die ersten 10 Runden funktionierte das auch super, doch ich merkte, dass ich mich immer mehr anstrengen musste, um mein Tempo zu halten. Die Pausen wurden immer kürzer, so dass ich mir genaue Prioritäten setzen musste. Was brauche ich am dringendsten? Trinken, essen, Klamotten, Kopflampe wechseln, Toilette, Ausruhen, …? Irgendwann stellte sich die Frage nach dem kurz ausruhen nicht mehr. Runde 10 beendete ich in 56 Minuten, Runde 11 in 58 Minuten… 2X Trillerpfeife… 1X Trillerpfeife… schnell Wasser holen, Lebkuchen für unterwegs… GLOCKE! – One more loop.
Eigentlich war mir bereits bewusst, dass Loop 12 meine letzte Runde sein wird. Ich rannte nur noch der Zeit hinterher, mein Bein ließ mein bisheriges Tempo nicht mehr zu und ich musste öfters zum Gehen wechseln. Auch war ich die Letzte auf der Strecke, es waren keine anderen Läufer mehr zu sehen, die Kopflampen entfernten sich mehr und mehr. Wann weiß man, ob oder dass es zu Ende ist? Wenn die Zeit so knapp wird, dass pinkeln ein DNF zur Folge haben kann? Vielleicht gilt es aber auch, genau diesen Punkt zu überwinden.
Als ich die 11. Runde fast beendete und um die Ecke Richtung Ziellinie bog, zeigte mir meine Uhr noch einige Sekunden. Doch ich hörte bereits die Glocke… ich lief 30 Sekunden zu spät über die Ziellinie. DNF. Offiziell beendete ich 11 Runden, da ich es nicht vor der vollen Stunde über die Ziellinie schaffte. In meinen Beinen hatte ich aber tatsächlich 83,70 Kilometer und 12 Loops.
Ich bezeichne diesen Backyard Ultra als meinen Auftakt dieser besonderen Form des Ultralaufens. Es war der beste erste Versuch, da ich mich sehr gut aufgehoben fühlte bei Katja, Andreas und allen Helfern und Läufern. Es passte einfach, auch wenn die Umstände nicht perfekt waren. Aber wann trifft das schon zu bei einem Lauf? Es ist sicherlich noch ein langer Weg zum last human standing, aber ich denke, dass mir diese Art von Rennen liegt und zu meinem Wesen passt. Irgendwie verrückt, aber trotzdem sehr strukturiert. Ich bin diesen Lauf sehr bewusst, mit Freude und Gelassenheit gelaufen. Natürlich hätte ich mich über einige weitere Runden gefreut, aber dazu war mein Bein nicht fit genug. Für ein erstes Reinschnuppern bin ich zufrieden. Und nachdem ich mein Laufjahr mit einer Verletzung begonnen habe, möchte ich es nicht auch noch mit einer Verletzung beenden. Dem Bein geht es gut, es ist zumindest nicht schlimmer geworden.
Das Jahr hat ja noch einige Wochen… wer weiß, vielleicht ergibt sich ja wieder mein fast alljährlicher, selbst organisierter 24h Lauf im Dezember und ich laufe doch noch +100km im Jahr 2024.